Diese Seite wurde archiviert - besuchen sie gsoa.ch und kriegsmaterial.ch für aktuelle Informationen.
[ de | fr | it ]

Die seltsame Auslegung des Bundesrates

Gemäss dem Bundesrat findet weder in Afghanistan noch in Libyen ein bewaffneter Konflikt im Sinne der Verordnung über das Kriegsmaterial statt. Denn die Empfängerstaaten seien an diesen Auseinandersetzungen mit Zustimmung des Sicherheitsrates beteiligt. Prof. Marco Sassòli bedauert, dass unser Land aus wirtschaftlichen Interessen einen zentralen Begriff des humanitären Völkerrechts untergräbt.

Schweizer Waffenexporte waren seit langem und sind weiterhin Auslöser öffentlicher Kontroversen. Das Volk und die Stände haben 2009 eine Initiative verworfen, die solche Ausfuhren gänzlich verboten hätte. Das bis anhin geltende Recht bleibt damit in Kraft. Es umfasst insbesondere den am 27. August 2008 eingeführten Artikel 5 Abs. 2 der Verordnung über das Kriegsmaterial (KMV)1, der unter anderem jeden Export verbietet, «wenn das Bestimmungsland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist». Gross war die Überraschung, als der Bundesrat in der Folge auf eine parlamentarische Anfrage zu den Ausfuhren an westliche Länder - die unzweifelhaft in die bewaffneten Konflikte im Irak und in Afghanistan verwickelt waren resp. sind – erklärte, dass in diesen zwei Staaten kein bewaffneter Konflikt im Sinne der KMV existiere. Der Bundesrat rechtfertigte seine Position damit, dass die Abnehmerstaaten mit Zustimmung des Uno-Sicherheitsrates in Afghanistan und im Irak aktiv seien. (Damit vermischte der Bundesrat die Frage der Existenz eines Konfliktes mit der Verwicklung in diesen Konflikt.)2

Bewaffnete Konflikte werden in zwei verschiedenen Sparten des Völkerrechts geregelt: dem ius ad bellum und dem ius in bello. Ersteres wird insbesondere in der Charta der Vereinten Nationen geregelt, welche die Anwendung bewaffneter Gewalt verbietet, ausser im Falle der Selbstverteidigung oder wenn der Sicherheitsrat den Einsatz genehmigt. Das ius in bello umfasst das humanitäre Völkerrecht (HVR), das hauptsächlich in den Genfer Konventionen von 1949 kodifiziert ist, sowie in ihren Zusatzprotokollen von 1977. Der Zweck des ius ad bellum ist es, internationale bewaffnete Konflikte zu verhindern, währendem das ius in bello darauf abzielt, die Opfer von internationalen und innerstaatlichen bewaffneten Konflikten zu beschützen.

Der Begriff des bewaffneten Konflikts

Seit zwanzig Jahren vertritt der Bundesrat – meiner Meinung nach zurecht – die Ansicht, dass sich die Verpflichtungen im Neutralitätsrecht nicht auf bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Staaten anwenden, wenn eine der Parteien mit Zustimmung des Sicherheitsrates handelt. Der Bundesrat hat sich jedoch nie auf den Standpunkt gestellt, dass sich in einem solchen Konflikt das HVR nicht anwenden würde.

Darum steht im Zentrum der Debatte die Frage, ob sich der Begriff des bewaffneten Konflikts in der KMV auf das Neutralitätsrecht verweist – wie der Bundesrat behauptet – oder auf den Begriff im HVR, der in den vier Genfer Konventionen definiert ist. Wie ich im Folgenden darlegen werde, scheint es mir, dass sich die KMV auf den Begriff im HRV beziehen muss. 2009 haben siebzig RechtsprofessorInnen dem Bundesrat einen offenen Brief geschrieben, der ebenfalls in diese Richtung wies. Inhaltlich wurde dieser Brief nie beantwortet.

Wenn wir zu einer systematischen Auslegung ansetzen, erscheint erstens der Begriff «bewaffneter Konflikt» einzig in den Abkommen des HVR und nicht in denjenigen des ius ad bellum oder des Neutralitätsrechts.

Zweitens existiert das Konzept der Neutralität nicht in Bezug auf interne Konflikte. Das Prinzip der Nicht-Einmischung verbietet die Lieferung von Waffen an Aufständische, aber (abgesehen von einer allfälligen Beihilfe zu Verletzungen des HVR oder der Menschenrechte) hindert aus völkerrechtlicher Sicht nichts einen «neutralen» Staat daran, Waffen an eine Regierung zu liefern, die in einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt verwickelt ist. Die KMV, die sowohl innerstaatliche wie auch internationale Konflikte abdeckt, kann sich somit nicht auf die Regeln des Neutralitätsrechts (die für innerstaatliche Konflikte gar nicht existieren) beziehen, sondern muss sich zwangsläufig auf das HVR beziehen, das beide Arten von bewaffneten Konflikten umfasst.

Drittens ist nicht nachvollziehbar, warum der Bundesrat bis 2008 hätte warten sollen, um in der KMV ein Verbot von Waffenlieferungen an Staaten einzuführen, die sich ohne Zustimmung des Sicherheitsrates in einem internationalen bewaffneten Konflikt befinden – obwohl ein solches Verbot gemäss dem Bundesrat schon seit langem gilt.3

Eine absurde Auslegung

Viertens hätte die Auslegung des Bundesrates absurde Konsequenzen: Die Schweiz dürfte einer demokratischen Regierung, die gegen eine bewaffnete terroristische Organisation ankämpft, keine Waffen liefern (da der Staat vom Sicherheitsrat keine Erlaubnis benötigt, um sich in einem solchen innerstaatlichen Konflikt auf seinem eigenen Territorium zu verteidigen). Währenddessen wären Lieferungen an Drittstaaten erlaubt, die im selben Konflikt auf der Seite derselben Regierung mit der Erlaubnis des Sicherheitsrates eingreifen. In diesem Sinne könnten beispielsweise die Staaten, die gegen Libyen Luftschläge durchführen, Schweizer Waffen erhalten. Falls aber Tunesien von Libyen angegriffen würde, dürfte das Land nicht beliefert werden, wenn es sein Recht auf Selbstverteidigung wahrnähme. Dafür wäre nämlich kein Uno-Mandat nötig. Artikel 5 Abs. 2 KMV kann darum nicht darauf abzielen, Waffenlieferungen an diejenigen zu verhindern, die sich unter Verletzung des Völkerrechts an einem bewaffneten Konflikt beteiligen (denn er verhindert oft auch Lieferungen an diejenigen, die sich im Einklang mit dem Völkerrecht verhalten). Es geht vielmehr darum (zumindest nachdem ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen ist) zu verhindern, dass Schweizer Waffen zu menschlichem Leid beitragen, das jeder bewaffneter Konflikt verursacht. Um den Begriff des bewaffneten Konflikts zu verstehen, ist es darum logisch, diejenige Sparte des Völkerrechts beizuziehen, die sich mit der Eindämmung dieses Leids befasst.

Die Schweiz, Verwahrer der Genfer Konventionen, engagiert sich weltweit für die Respektierung des HVR. In dieser Rolle widersetzt sie sich dagegen, dass das HVR untergraben wird. Unter anderem widersetzt sich die Schweiz den Theorien, wonach sich eine Partei nicht ans HVR halten müsse, wenn sie ein besonders gerechtes Ziel verfolge (z. B. in der Folge einer Ermächtigung durch den Sicherheitsrat). Länder wie Indien (Kaschmir), Pakistan, die Türkei oder Russland (Tschetschenien) bestreiten die Anwendbarkeit des HVR auf gewalttätige Auseinandersetzungen, mit denen sie konfrontiert sind, indem sie vorgeben, dass es sich nicht um bewaffnete Konflikte handle. Es ist bedauerlich, dass die Schweiz nun ebenfalls einen zentralen Begriff des HVR verdreht, und zwar aus noch beschränktem wirtschaftlichem Interesse. Wie soll die Schweiz noch zur Respektierung des HVR in den bewaffneten Konflikten, in welche die Nato in Afghanistan oder Libyen verwickelt ist, aufrufen, nachdem der Bundesrat behauptet hat, dass es in diesen beiden Ländern gemäss Schweizer Recht gar keinen bewaffneten Konflikt gebe?

1 SR 514.511

2 Antwort des Bundesrates auf die Anfrage Lang vom 1. Oktober 2008, online unter: www.parlament.ch

3 Siehe BBl 2005 S. 7012

Mit freundlicher Genehmigung übernommen von Plädoyer 4/11, pp. 24-25.